Kürzlich entdeckte ich beim Putzen an der Unterseite des Küchentischs eine Inschrift in krakeligen Dunkelblau-Filzstift-Buchstaben. "Mama Du bist Schlimm und Braf" war da zu lesen. Später stellte sich heraus, mein Sohn hatte das nach einem Streit mit mir als Sechsjähriger dort verewigt. Zuerst stand übrigens nur "Mama du bist schlimm" dort. Dann hat er beim Zornigsein auf mich aber festgestellt, dass ich manche Sachen in seiner Gedankenwelt doch "brav" mache. Sein Lieblingsessen kochen zum Beispiel.

Familienregeln in Piktogrammform

Das brachte mich zum Nachdenken. Was ist eigentlich schlimm – und was ist brav? Als ich Kind war, hingen in Kindergärten und Schulen und selbst bei uns zu Hause immer Listen mit Regeln. Zuerst in Form von Piktogrammen, später in ganzen, grammatikalisch schönstformulierten Sätzen. "Ich erwarte mir eine gerechte Aufteilung der Haushaltsarbeit. Darum wird jeder und jede ab sofort das eigene Geschirr selbstständig in den Geschirrspüler einräumen und diesen, sofern er voll sein sollte, auch in Betrieb nehmen", dichtete meine Mutter einst formvollendet und blümchenverziert an die Küchentür.

Unsagbar peinlich war uns Kindern das vor den coolen Freundinnen und Freunden, die uns und meiner Mutter gegenüber schworen, zu Hause niemals mithelfen zu müssen. Na ja. Die hatten dann auch solche Zettel an Kühlschranktüren und Badezimmerfenstern picken. Die Erziehungsrevolution der 1980er-Jahre und das erste Buch von Jan-Uwe Rogge, das auch wir einst in der Unterstufe im Gymnasium gelesen haben, um uns gegen die Erziehungsattacken der Eltern zu wehren, gingen eben an den wenigsten spurlos vorüber.

Respektvoll miteinander – so wie die Erwachsenen?

Jedenfalls: Einige Regeln, die wir als Erwachsene aufstellen, sind ja wirklich wichtig und sinnvoll. Zum Beispiel: niemanden zu schlagen, niemanden zu treten, niemandem ein Spielzeug wegzunehmen oder niemanden zu beleidigen. Lernen, den anderen aussprechen zu lassen, einander zu respektieren und wertschätzend miteinander umzugehen. Aber je mehr ich über diese potenziellen Regeln für das Schlimm- und Bravsein unserer Kinder nachdenke, desto mehr fällt mir auf, dass auch wir Erwachsene uns solche Regeln in Piktogrammform geben sollten. Zu Hause, an Arbeitsplätzen oder in Supermärkten. Es ist nämlich oft nicht sehr nett, wie wir miteinander umgehen.

Und wie sollen wir von unseren Kindern fordern, dass sie die Lena im Kindergarten nicht zwicken und die Soraya wegen ihrer Leidenschaft für One Direction nicht auslachen sollen, wenn wir selbst uns unseren Mitmenschen gegenüber nicht fair und respektvoll benehmen? Mein Sohn hat also ganz recht, wenn er schreibt, dass Erwachsene wie ich auch ziemlich schlimm sein können.

Vorbild sein ist schwer

Manchmal kommt mir vor, dass wir Eltern sehr gerne ganz brave Kinder hätten. Dann müssten wir uns nämlich nie über sie ärgern, und es gäbe keine Diskussionen. Alles wäre ganz wunderbar harmonisch. Wir Eltern müssten uns nicht mit schwierigen Erziehungsfragen auseinandersetzen und uns fragen, ob es nicht auch an uns liegt, dass sich unsere Kinder so verhalten, wie sie es eben tun. Nicht, weil wir es sind, die die Lena zwicken oder die Soraya auslachen. Nein, weil wir ihnen Vorbilder sind und sie von uns lernen.

Kleine Neandertaler zu Gast bei mir

Irgendwann habe ich einen interessanten Gedanken gelesen: Man solle sich kleine Kinder vorstellen wie Steinzeitmenschen, die sich in unserer modernen Gesellschaft zurechtfinden müssen. In diesem Sinne arbeite auch ich täglich weiter daran, dass meine kleinen Neandertaler das Geschirr selbstständig in den Geschirrspüler räumen. Mit manchmal großem und manchmal weniger großem Erfolg. Ich sehe mich als ihre schon erwachsene Neandertaler-Mama, wenn ich wieder einmal die Kleidung neben der Couch oder dem Bett fallen lasse, ohne sie – wie am Zettel an unserer Kühlschranktür mit Rufzeichen und Herzchenpickerl gefordert – sofort in den Wäschekorb im Badezimmer zu werfen.

Ich erinnere mich auch noch sehr genau an die sechsjährige Sanna, die mit einem roten Filzstift krakelig auf die Tischunterseite genau denselben Satz über ihre eigene Mama geschrieben hat. (Sanna Weisz, 27.11.2016)