Wozu brauchen wir die Literatur? Um Karriere zu machen oder auch nur um einen Job zu finden? Dazu benötigen wir sie in der Regel nicht. Man kann wirtschaftlich erfolgreich sein, ohne je eine Seite Literatur gelesen zu haben.

Goethe & Co sind für die Arbeitssuche nicht wirklich zu etwas gut. Doch. Zu etwas gut sind sie schon, nur brauchen tun die meisten Menschen sie nicht. Wobei: Wer bestimmt eigentlich, was wir brauchen?

Vor vielen Jahren habe ich als Studentin einmal bei einer Diskussion in einer siebten Klasse eines Gymnasiums zugehört, bei der es ums Brauchen ging. Kann man das, was wir in Deutsch lernen, brauchen?, lautete die Frage des Lehrers.

Nein, eigentlich nicht, antworteten die Schüler. Zuerst. Nach und nach aber gab es Gegenstimmen. Schülerinnen, die meinten, so richtig brauchen täte man das vielleicht nicht, aber interessant sei es schon.

Und plötzlich stand der Begriff des Brauchens im Mittelpunkt der Diskussion. Man einigte sich darauf, dass es Sinn und Zweck des Deutschunterrichts sei, den "Brauchen“-Begriff zu relativieren und zu erweitern.

Was "brauchen" wir?

Den "Brauchen“-Begriff relativieren und erweitern. Das wurde vor gut zwanzig Jahren als Aufgabe des gymnasialen Deutschunterrichts begriffen. In Deutsch beschäftigte man sich damals hauptsächlich mit Literatur. Grammatik, Rechtschreibung, das war Stoff der Unterstufe. In der Oberstufe ging es vor allem darum, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke zu lesen, zu diskutieren, zu reflektieren, über das Gelesene nachzudenken, die dargestellten Positionen nachzuvollziehen und zu kritisieren und – davon ausgehend – eigene Standpunkte zu formulieren – ausführlich, dialektisch und ohne unmittelbar verwertbar zu sein.

Dass die Realität nicht immer und überall so vorbildlich war, wie es in der einen Stunde zu beobachten war, und Anspruch und Wirklichkeit auch damals mitunter weit auseinander klafften, versteht sich von selbst.

Heute aber bleibt auch theoretisch und auch im Gymnasium kaum noch Zeit für die Literatur. Stattdessen sollen Kompetenzen vermittelt werden. Wie schreibe ich einen Leserbrief? Was gehört in eine Empfehlung? Worin unterscheidet sich ein Kommentar von einem Offenen Brief?

Die Schüler sollen das Schreiben von Textsorten üben, das Strukturieren, das Überarbeiten und formale Gestalten. Sie sollen aber auch Lesekompetenz ausbilden, nicht nur, aber insbesondere durch Lesen von journalistischen und Sachtexten, sei es in gedruckter oder elektronischer, in linearer oder nicht-linearer Form.

Textkompetenz und Medienkompetenz

Die Literatur kommt nur mehr am Rande vor und hat sich in jedem Fall der Kompetenzorientierung unterzuordnen. Textkompetenz und Medienkompetenz, kommunikative und schriftliche Kompetenz gilt es nach standardisierten Vorgaben zu trainieren und zu fördern. Nicht, dass Schüler all das nicht auch gebrauchen könnten. Ziemlich nützlich sogar das alles, keine Frage. Nur: Aus wessen Sicht und in welchem Kontext ist es das eigentlich?

Aus Schülersicht ist die Beschäftigung mit Sachtexten per se nicht sinnvoller als die Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Gelernt wird, was zur Matura kommt, nicht mehr und nicht weniger. Mit dem eigenen Leben hat das eine wie das andere nicht viel zu tun. Die Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher ist heute vom Zeitunglesen (fast) genauso weit entfernt wie von den Büchern einer Elfriede Jelinek oder eines Thomas Bernhard. Es ist also letztendlich das Postulat der Gesellschaft festzulegen, was Kinder und Jugendliche lernen sollen und wofür.

Wenn dabei nur dem hinterhergehechelt wird, was gerade vonnöten ist, um möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, erübrigen sich der Deutschunterricht und Schulbildung ohnehin. Aber auch dann, wenn den Jugendlichen ständig gesagt wird, welche Kompetenzen fürs Leben erforderlich sind, verharren wir letztlich im Modus des Hinterherhechelns und sorgen für falsche Gewissheiten und Abhängigkeit von dominierenden Diskursen.

Indem pausenlos von Kompetenzen die Rede ist, wird Realität konstruiert, den Jugendlichen aber wird diese eine Realität als alternativlose Wirklichkeit verkauft. Die gegenwärtige Form der Marktwirtschaft wird zur Conditio sine qua non, in der es sich zu beweisen gilt, die Jugendlichen zu Handlangern und Performern einer gesellschaftlichen Fiktion.

Jungen Menschen Orientierung bieten

Dabei gälte es, den jungen Menschen schlichtweg Orientierung zu bieten. Nichts ist dazu besser geeignet als die Literatur. Die Literatur schafft Orientierung in der Welt, in der gegenwärtigen ebenso wie in der vergangenen. Wie wir wurden, was wir sind, können wir an literarischen Zeugnissen nachvollziehen. Gleichzeitig können wir an ihnen auch sehen, was immer schon möglich gewesen wäre. Literatur ist nicht nur Spiegel der Wirklichkeit, Literatur birgt Wirkliches ebenso wie Unwirkliches, Realisiertes wie Utopisches, Eigenes wie Fremdes in sich. Literarische Texte sind Wirklichkeitsmodelle und an diesen Modellen lässt sich viel mehr lernen als gegenwärtig gesellschaftlich für nötig befunden. Durch ihren Modellcharakter schafft die Literatur Orientierung und gleichzeitig lässt sich an diesen Modellen die Komplexität des Lebens beobachten.

Literatur ist immer mehrdeutig, häufig subversiv und jedenfalls nicht auf einfache Botschaften reduzierbar. An der Literatur lässt sich fürs Leben lernen – was man dazu braucht, sagt sie einem nicht. Genau diese Fähigkeit aber könnten wir getrost den Jugendlichen überantworten. Die jungen Menschen sollen selbst danach suchen und bestimmen, was für ihr weiteres Leben relevant ist und was nicht. Die Aufgabe der (allgemeinbildenden höheren) Schule aber müsste es sein, den Jugendlichen bei ihrem Orientierungsprozess zu helfen, ihnen die Literatur begreif- und verstehbar zu machen, ihren „Brauchen“-Begriff mit Hilfe der Literatur so zu erweitern, dass sie nach der Matura tatsächlich in der Lage sind, selbst zu entscheiden.

Das wäre wahrlich eine Herausforderung und schwierig genug und – nur am Rande und angesichts der Diskussionen um die neue Lehrerbildung sei’s bemerkt – erfordert Lehrerinnen und Lehrer, die selbst genug fachliche Orientierung erfahren durften, um erklären zu können, wozu wir der Literatur bedürfen. (Monika Neuhofer, derStandard.at, 5.8.2014)