Dreimal wurde William Binney von den US-amerikanischen Behörden angeklagt, zu einer Verurteilung kam es nie.

Foto: Standard/Newald

Statt Terroristen zu jagen, setzt die NSA auf Massenüberwachung. Daten von Milliarden Personen werden gespeichert, 70 Mrd. Dollar jährlich dafür ausgegeben. Ergebnis: null, Potenzial zu Erpressung und Verfassungsbruch: 100, sagt Ex-NSA-Agent Bill Binney zu Christoph Prantner.

STANDARD: Die US-Geheimdienste haben die Massenüberwachung nach 9/11 begonnen. Wie haben sich damals Techniken und Perspektive der Dienste verändert?

Binney: Die NSA hat damals den Blickwinkel verschoben und auf Massenspeicherung von Daten umgestellt. Zuerst in den USA, dann auf der gesamten Welt. Derzeit überwachen sie zwischen drei und vier Milliarden Menschen: alle, die in der digitalen Welt leben, also E-Mails, Telefone, Überweisungen und dergleichen verwenden. Im Gegenzug wurde der Fokus von definierten Gruppen wie Militärs, Terroristen, Drogendealern oder Regierungen genommen. Das Einschätzen von Risiken, Bedrohungen und Fähigkeiten potenzieller Gegner – Kerntätigkeit eines jeden Nachrichtendienstes – wurde so vernachlässigt. Statt den Heuhaufen zu verkleinern, um die Nadel zu finden, hat man ihn vergrößert – mit furchtbaren Folgen für die Bürgerrechte von Milliarden Menschen.

STANDARD: Gibt es eine Chance für Bewohner der vernetzten Welt, dieser Überwachung zu entgehen?

Binney: Nein (lacht). Nichts zu machen. Sie wollen Ihre Kommunikation verschlüsseln? In allen Programmen gibt es Hintertüren, durch die sie hineinkommen. Selbst eine sichere Verschlüsselung müssen Sie irgendwann auf Ihrem Computer entschlüsseln, und der ist offen. Wenn Sie eine Zielperson sind und die Sie kriegen wollen, dann sind Sie dran.

STANDARD: All diese teuren Privacy-Programme sind nur Müll?

Binney: Ich kaufe sie nicht, weil sie einen nicht schützen können. Ich weiß, dass ich ein Ziel bin, weil ich gegen diese Praxis auftrete. Es wäre sinnlos für mich, das Zeug zu kaufen. Stattdessen stelle ich vielmehr sicher, dass sie alles, was ich sage, auch genau mitbekommen. Wenn sie mich anklagen wollen, dann ist alles öffentlich. Das hat den Vorteil, dass sie sich nicht hinter der nationalen Sicherheit und Geheimklassifikationen verstecken können.

STANDARD: Man hat bereits versucht, Sie anzuklagen.

Binney: Ja, dreimal. Mich und alle anderen, die über die Praktiken der NSA öffentlich gesprochen haben (Tom Drake, Kirk Wiebe und Diane Roark, Anm.). Wir haben Korruption und die Verschwendung öffentlicher Mittel angeprangert. Verurteilt wurden wir nicht, weil alles wahr ist. Die NSA hat das alles heruntergespielt und vertuscht, damit niemand etwas dagegen unternehmen kann.

STANDARD: Warum hat es keinen Aufschrei dagegen gegeben, in der Presse oder im Kongress?

Binney: Es hat vergangenen Sommer, nach den Snowden-Veröffentlichungen, einen Versuch gegeben, der NSA die Gelder zu entziehen. Präsident Obama und der damalige NSA-Chef Alexander sind mit aller Macht dagegen vorgegangen. Trotzdem haben nur zwölf Stimmen für den Gesetzesbeschluss gefehlt. Das ist sehr gut, die Initiative ist noch nicht tot.

STANDARD: Obama ist Verfassungsrechtler und unternimmt nichts gegen diese Praktiken. Warum?

Binney: Als er 2009 Präsident wurde, habe ich gehofft, dass er dagegen vorgeht. Ein Präsident schwört, die Verfassung zu verteidigen, zu schützen und zu bewahren. Das hat Barack Obama nicht gemacht. Eine große Enttäuschung. Das Argument war wahrscheinlich, dass dadurch die nationale Sicherheit gefährdet werden könne. Aber im Gegenteil, genau durch die NSA-Praktiken ist das der Fall: Durch die Massenspeicherung von Daten werden sie unfähig, jemanden zu schützen. Sehen Sie sich die jüngsten Attentate an: Boston, Fort Hood, den Times Square – da haben sie überall versagt. Man war nur dort erfolgreich, wo das FBI Leuten Fallen stellte. Wenn es um das "real thing" ging, waren sie dysfunktional. Allein das wäre Argument genug, um das zu stoppen.

STANDARD: Neben den politischen Interessen geht es vor allem um Wirtschaftsinteressen. Wie groß ist der Markt in diesem Bereich?

Binney: Ich würde ihn auf 70 Mrd. Dollar (52,4 Mrd. Euro) im Jahr taxieren – so viel wird allein in der Intelligence Community an Aufträgen vergeben. Übrigens: Ex-NSA-Chef Alexander sucht gerade einen neuen Job in diesem Bereich. Er stellt sich eine Gage von einer Million Dollar vor. Im Monat. Es werden viele zu Millionären. Die Sache dabei ist, dass sie das Grundproblem eben nicht lösen. Sie wollen mehr Geld und neue Aufträge, deshalb müssen Probleme und Bedrohungen bestehen bleiben, um noch mehr Geld aus dem System ziehen zu können.

STANDARD: Auch die Snowden-Affäre hat daran nichts geändert?

Binney: Nein. Denn sie haben es so hingedreht, dass plötzlich der Whistleblower schuld ist an all den Missständen und nicht deren wahre Verursacher. Der Kongress wird belogen. Politiker, Dienste, Unternehmen lügen sich untereinander an. Es ist ein Konglomerat von Lügen, und alle sind genötigt, sich die Stange zu halten. Denn fällt einer, dann fallen alle. Alle sind schuldig an Verbrechen gegen die Verfassung, deswegen müssen sie diese Verbrechen vertuschen.

STANDARD: Sie haben ein Programm – ThinThread– erfunden, das die Bürgerrechte viel weniger verletzt und bessere Resultate liefert als Massenüberwachung. Warum wurde es nicht eingesetzt?

Binney: Es wurde für etwa zwei Jahre an drei Orten eingesetzt. Ein größerer Rollout war geplant, aber ein paar Wochen vor 9/11 wurde es abgedreht. Unser Ansatzpunkt war nicht die Kollektion von Daten, sondern deren Selektion – abgestellt auf Zielgruppen wie Militärs oder Terroristen. Wir haben mit Metadaten gearbeitet und dafür Telefonnetze, IP-Adressen und dergleichen verwendet. Daraus haben wir Gruppen und Netzwerke ermittelt und durch die Metadaten für uns Relevantes aus dem Datenfluss gefischt, alles andere aber unangetastet gelassen. Das hat gezeigt, dass erstens das Problem gelöst war. Und man zweitens nicht Unmengen an Geld ausgeben musste, um riesige Datenmengen zu speichern. Stattdessen konnte man den Analytikern das geben, was sie brauchten: nämlich ausgewählte, relevante Daten und nicht jeden Mist.

STANDARD: Zum Zeitpunkt der 9/11-Attentate waren Sie noch im Dienst. Was haben Sie damals gemacht?

Binney: Ich wusste, dass wir versagt hatten, und bin zur Agency gefahren. Man ließ niemanden mehr ins Gebäude. Am nächsten Tag habe ich noch einmal angeregt, die Daten zu durchsuchen. Der Punkt war: Sie hatten genügend Informationen, um die Attentäter zu stoppen. Aber sie wussten nicht, dass sie diese hatten. Tom Drake hat unser Programm zwei Monate nach 9/11 durchlaufen lassen, und alles war da.

STANDARD: Auch Alliierte werden abgehört. Der Protest dagegen ist verhalten. Zu viel Kooperation?

Binney: Die Deutschen sind die Einzigen, die substanziell protestieren, weil sie Erinnerungen an die Stasi und die Gestapo haben. Das, was heute läuft, ist eine ähnlich totalitäre Prozedur.

STANDARD: Was wurde zum Beispiel bei Kanzlerin Merkel gesucht?

Binney: Es wird über jeden alles gesammelt. Damit kann man Hebel finden, dass Menschen das tun, wovon man will, dass sie es tun. Nehmen Sie zum Beispiel Ex-CIA-Chef Petraeus oder den früheren Isaf-Kommandeur Allen: Ein Teil in Obamas Wiederwahlstrategie war es, zu behaupten, mit dem Tod Bin Ladens seien Al-Kaida und der Terror besiegt. Die beiden äußerten Zweifel daran. Prompt wurden E-Mails publik, die außereheliche Affären der beiden belegten oder nahelegten. Die NSA-Datenbanken wurden benutzt, es wurde Schmutz gesucht und gefunden. Und weg waren sie. Das Gleiche geschah mit dem New Yorker Gouverneur Elliot Spitzer, der 2008 gegen die Banken vorgehen wollte und kurz darauf über eine Affäre mit Prostituierten stürzte.

STANDARD: Es war nie so einfach, jemanden zu erpressen?

Binney: Ja. Es ist wie J. Edgar Hoover (der Gründer und jahrzehntelange Chef des FBI, Anm.) auf Supersteroiden. Hoover hatte Informationen über ein paar Tausend Menschen und war dadurch unglaublich mächtig. Heute haben sie lückenlose Daten von Milliarden Menschen. Nixon ließ Vietnamkriegsgegner ausspionieren, das brachte ihm ein Amtsenthebungsverfahren ein. Aber das war unendlich klein im Gegensatz zu dem, was heute geschieht. (Christoph Prantner, 13.8.2014)