Karl Merkatz ist es nicht. Michael Häupl nicht. Willi Resetarits auch nicht. Sie mögen zwar Musterbeispiele für den Wiener Grant und Schmäh sein, haben aber den falschen Ort in der Geburtsurkunde, um "echte" Wiener zu sein. Karl Merkatz ist in Wiener Neustadt geboren, Michael Häupl in Altlengbach, Willi Resetarits in Stinatz.

Die drei zählen damit zur Mehrheit: In Wien geborene Menschen sind in der Bundeshauptstadt die Minderheit. Von 1,8 Millionen Menschen haben 872.000 ihren Geburtsort in Wien, 605.000 im Ausland und 323.000 in den Bundesländern. Mehr als die Hälfte ist demnach zugezogen. Wo es mehr oder weniger Urwiener gibt, ist von Grätzel zu Grätzel unterschiedlich.

Wir sehen: Die meisten Wahlwiener wohnen zentrumsnah. Die meisten Zugezogenen sind jünger als 30 Jahre und wegen Job oder Ausbildung in der Stadt. Sie ziehen, wenn sie können, fast immer in die Innenstadtbezirke. Je älter sie werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie von der Innenstadt in die Randbezirke oder den Speckgürtel nach Niederösterreich umziehen. Das passiert, wenn die Familiengründung ansteht oder das erste Kind schon da ist. Das ist auch an den Wanderungssalden erkennbar: Wer innerhalb Wiens umzieht, macht das vor allem weg vom Zentrum in Richtung Randbezirke.

Dieses Verhalten ist auch an der Altersstruktur der innerstädtischen Bezirke abzulesen: In den Bezirken zwei bis zehn liegt der Schwerpunkt der Bevölkerungspyramide durchgehend bei den 20- bis 35-Jährigen. Ein Beispiel dafür ist der siebente Bezirk, Neubau.

Der Altenquotient, also das Verhältnis der Anzahl der über 64-Jährigen zur Anzahl der 20- bis 64-Jährigen, ist besonders gering. Das Gegenteil ist der 13. Bezirk, Hietzing. Es hat den höchsten Altenquotienten.

Ältere Menschen ziehen weniger häufig um als jüngere. Drei von vier Menschen, die 2014 aus den Bundesländern nach Wien gekommen sind, waren jünger als 35 Jahre. Ähnlich verhält es sich bei der Zuwanderung aus dem Ausland: Zwei von drei sind jünger als 35. Die Zahl der Umzüge ist in Randbezirken niedriger als in zentrumsnahen Bezirken.

Die Innere Stadt (1.), Landstraße (3.) und Wieden (4.) sind hier die Ausnahmen. Hier ist die Fluktuation niedriger, eine eingesessene Bevölkerung ist eher zu finden. Die Innere Stadt hat generell eine Ausnahmestellung: Sie hat wenige Einwohner, ist demografisch gesehen sehr alt und wegen der Geschäftstätigkeit ein Sonderfall. Eine höhere Fluktuation gibt es im Gegenzug in Rudolfsheim-Fünfhaus (15.) und in Hernals (17.). Das hat auch mit Wien als Universitätsstandort zu tun. Mehr als jeder zweite Studierende in Österreich ist in Wien an einer Universität oder Fachhochschule eingetragen (56 Prozent, 2015/16). Viele der aktuell 180.000 Studenten verlassen Wien nach Studienabschluss wieder. Sie erhöhen die Quote der in den Bundesländern geborenen Einwohner nur für diesen Zeitraum, fallen danach wieder aus der Statistik. Exemplarisch für Studenten aus den Bundesländern, die es in die Stadtmitte zieht, sind Vorarlberger. Ein Blick auf die geografische Verteilung zeigt, dass ihr Bevölkerungsanteil in der Innenstadt am höchsten ist und in Richtung der äußeren Bezirke abnimmt.

7.800 Wahlwiener sind in Vorarlberg geboren. Das sind mehr Menschen als etwa in Altach leben (6.800). Die weiteren Bundesländer im Kurzporträt:

  • Niederösterreich: Das Nachbarbundesland ist ein Sonderfall, weil die Grenzen zwischen Wien und dem Speckgürtel nach und nach verschwinden. Etwa jeder zweite der 320.000 Wahlwiener aus den Bundesländern ist in Niederösterreich geboren (46 Prozent). Damit stellt Niederösterreich den größten Anteil der Bevölkerung aus den Bundesländern.
  • Oberösterreich: Menschen, die in Oberösterreich geboren sind, bleiben vor allem im Westen Wiens. Sie sind die zweitgrößte Gruppe bei Zugezogenen aus den Bundesländern.

  • Steiermark: Es wohnen etwa gleich viele Steirer in Wien wie Oberösterreicher. Sie leben ebenfalls vor allem im Zentrum und im Westen.
  • Burgenland: In Wien wohnen mehr gebürtige Burgenländer als Eisenstadt heute Einwohner hat. Sie wohnen vor allem im Süden Wiens.
  • Salzburg: Die fast 15.000 Salzburger leben vor allem in nördlicheren und innerstädtischen Bezirken.
  • Tirol: Für Tirol gilt der gleiche Grundsatz wie für Vorarlberg: Die 12.000 gebürtigen Tiroler wohnen hauptsächlich zentrumsnah.
  • Kärnten: Der Großteil der Kärntner wohnt im Westen Wiens.
  • Ausland: Den höchsten Anteil von gebürtigen Ausländern gibt es entlang des Gürtels und im zehnten Bezirk. Zuwanderergruppen haben ein niedriges Einkommen zur Verfügung. Deshalb ziehen sie in Gebiete mit tendenziell niedrigeren Mietpreisen. Die Gebäude entstammen der Gründerzeit, die Bausubstanz ist schlecht, die Verkehrsbelastung ist hoch – die Wohnqualität also niedriger als im Rest von Wien.

War das nicht alles schon immer so?

Ja und Nein.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Balance zwischen gebürtigen Wienern und Zugewanderten noch eindeutiger. 1880 waren sechs von zehn Bürgern Wiens aus dem Ausland oder "den Bundesländern". Als Metropole der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn wuchs die Stadt bis auf 2,08 Millionen Einwohner an, während des Ersten Weltkriegs lebten in Wien wegen des großen Zustroms von Flüchtlingen bis zu 2,35 Millionen Menschen. Dieses Level hat die Stadt seither nicht mehr erreicht.

Bis zum Jahr 1971 hat sich die Balance zwischen Ur- und Wahlwienern wieder verschoben. Damals waren zwei von drei Wienern auch in der Bundeshauptstadt geboren. Die Struktur der Bevölkerung entwickelt sich wieder in Richtung Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte wiederholt sich.

Woran liegt das?

Wien ist in den vergangenen 50 Jahren hauptsächlich wegen Zuwanderung gewachsen. Der Zuzug von Gastarbeitern aus der Türkei und Jugoslawien in den 60er- und 70er-Jahren, die Balkankonflikte zu Beginn der 90er-Jahre und die EU-Osterweiterung Mitte der 00er-Jahre waren politische Wendepunkte für die Demografie Wiens.

Wie geht das weiter?

Bis zum Jahr 2029 soll die Bundeshauptstadt wieder die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke geknackt haben. Das hat die MA 23 vor zwei Jahren prognostiziert – vor Beginn der Flüchtlingskrise.

Ein jüngeres Szenario der Statistik Austria, die eine hohe Anerkennungsrate der Flüchtlinge durchgerechnet hat, sieht diese Hürde schon 2019 übersprungen. In der Hauptvariante, also der tatsächlichen Bevölkerungsprognose des Institutes, wird es 2024 so weit sein.

In jedem Fall: Wien wächst. Und der echte Wiener wird schon nicht untergehen. (Gerald Gartner, Markus Hametner, 18.3.2016)