Er war immer schon da. Ob man wollte oder nicht. Wenn man im Winter auf dem Eislaufplatz Runden zog, ertönten seine Lieder aus dem Lautsprecher. Kaufte man im Sommer im Restaurant des Freibads ein Eis, bestellte er im Hintergrund die Sahne dazu. Zogen sich Tom und Jerry die Haut vom Skelett, bedankte er sich für die Blumen.

Udo Jürgens als Schüler.
Foto: publicum.ch/udo Jürgens

Und Samstagabend, wenn der Fernseher für die obligatorische Showsendung aufgedreht war, saß irgendwann er am Flügel. Im Anzug, die Haare brav zur Seite gekampelt, rückte er sich das Mascherl zurecht und haute in die Tasten: "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an." Das Lied von der Pensionsreform.

Eine Kindheit und Jugend ohne Udo Jürgens ist für mehrere Generationen kaum vorstellbar. Jürgens war so präsent wie Peter Alexander. Nur nicht so onkelhaft und kindisch, vergleichsweise weltmännisch. So eine Zuschreibung wäre einem in den 1970ern natürlich nicht in den Sinn gekommen. Und logisch, dass Elvis der schärfere Typ war. Obwohl man noch gar nicht verstanden hat, was der sang. Aber sicher nicht über Tante Emma. Elvis war dann bald nicht mehr zum Anschauen und plötzlich ganz weg. Udo aber ist geblieben. Bis heute. Am Dienstag wird er 80 Jahre alt. Und eigentlich sieht er aus wie immer. Klar hat er ein paar Falten, aber er ist immer noch ein ansehnlicher Mann. 80 Jahr, gefärbtes Haar, so steht er vor mir.

Udo Jürgens verband das Vorstellbare mit dem Unvorstellbaren. Man wusste, der ist ein ganz normaler Kärntner, heißt eigentlich Bockelmann, was die Gewöhnlichkeit durchaus unterstrich, und genoss als solcher ebenso wenig das Privileg einer besonders attraktiven Geburtsstadt wie man selbst. New York oder L.A. ist von Klagenfurt gleich weit weg wie von Ternitz, Kapfenberg oder Wels.

Udo Jürgens, fotografiert von seinem Bruder Manfred Bockelmann.
Foto: Sony BMG / Manfred Bockelmann Udo Jürgens "Einfach ich"

Udo war einer von uns, und dann doch nicht. Schließlich spielte er im Fernsehen und im Radio, lachte im Elektrofachgeschäft aus der Schallplattenabteilung rüber und schaute hin und wieder am Sonntag aus dem Zeitungsständer.

Und dann gab es da diese Sache mit dem Rolls-Royce. Das erschien nahezu unglaublich. Zwar wusste man von der Existenz solcher Automobile, und man kannte diese Luxuskreuzer auf Rädern vom Quartettspielen. Es hieß, die kosten eine Million Schilling, locker. Das war als Größenordnung bei Dagobert Ducks Fantastilliarden angesiedelt. Eine Million hatte niemand, den man kannte. Aber um eine Million, so viel war klar, kaufte man sich ein Grundstück oder zwei und baute ein Haus drauf, sagte dem Chef ordentlich seine Meinung und schmiss die Arbeit hin, für immer. Eine Mille für ein Auto auszugeben, das erschien unfassbar. Dafür hätte es circa 18 Simca gegeben. Aber allein, dass man das von Udo Jürgens wusste, rückte ihn in die Nähe der eigenen Existenz. Gleichzeitig beschlich einen das Gefühl, der muss ein Star sein. Echt. So richtig. So wie Elvis einer war. Nur eben aus Kärnten – Sachen gibt's.

Udo, die Hitmaschine

Heute ist das längst amtlich. Udo Jürgens ist ein Superstar im deutschen Sprachraum. 100 Millionen Platten soll er verkauft haben. An Frauen, aber auch an Männer. Udo, die Hitmaschine, Udo, der Schlagerstar. Dabei mag er den Begriff gar nicht. Schlager, sagte er einmal, das klinge nach Gewalt. Das fände er nicht sympathisch als Beschreibung für seine Kunst.

Vielleicht musste er dabei an jenen Schlag denken, der ihm auf einem Ohr eine verminderte Hörleistung eintrug, ein Souvenir der Hitlerjugend. Aber natürlich fällt seine Musik ins Schlagerfach. Nicht nur, aber schon. Aber seine Fans zerbrechen sich da nicht groß den Kopf. Sie lieben ihn dafür, dass er kleine Geschichten erzählt. In drei Minuten, das weiß Jürgens, ist viel möglich, aber nicht alles. "Lieder sind eher Binsenweisheiten, keine Leitartikel, die die Welt erklären." Sein Job sei es, kleine Hoffnungen zu formulieren. Er verspricht niemandem das Blau des Himmels, denn das kann er nicht einlösen. Aber er singt von kleinen Sehnsüchten, macht klar, es ist legitim, Hoffnungen zu haben. Manche werden sich erfüllen, viele nicht. So ist das Leben. Und so ist Udo Jürgens mit seiner Musik für viele ein Lebensmensch geworden.

Alben, Tourneen, Shows – seit Jahrzehnten aktiv: Udo Jürgens.
Foto: Sony Music/Dominik Beckmann

Das war er schon, bevor der Begriff kontaminiert wurde. Und zwar ausgerechnet von jemandem, der eine unvollendete Diplomarbeit über Udo Jürgens in der Lade liegen hat. Stefan Petzner meditiert laut eigenen Angaben über das Thema "Die Macht der Musik am Beispiel Udo Jürgens".

Ungeachtet dieser solariumbraunen Fußnote begleitet Jürgens mit seiner Musik seine Fans schon lange. "Wirkliche Stars sind Menschen, die einen Teil unseres Lebens mit ihrer Kunst begleitet haben. Man ärgert sich hin und wieder über sie, findet manches schrecklich, aber aus deren Liedern haben wir auch unsere Zeit erkannt. Das Hand-in-Hand-Gehen mit dem Publikum, das ist ein Wert, der ist nicht einfach so aus dem Hut zu zaubern."

Jürgens versuchte mehr zu bieten als kleine Sehnsuchtslieder nach dem griechischen Wein, der in Wahrheit dem Essig nicht das Wasser reichen kann. Er wollte den Schlager aus der Banalität führen. Wenigstens hin und wieder. Er verspottete die Spießbürger im "ehrenwerten Haus", sang, als es zu Beginn der 1980er-Jahre en vogue war, über die Umweltproblematik ("5 Minuten vor 12"), verdammte in "Traumtänzer" die Wettrüstung des Kalten Krieges und thematisierte in "Rot blüht der Mohn" sogar Drogen. Huch! Damit erfüllt man der Omi im Erbschleicherradio keinen Geburtstagswunsch.

Die Kritik nahm ihm das nicht ab. Er bediene nur Klischees und formuliere naive Weltverbesserungsfantasien. Mit "Gehet hin und vermehret euch" landete er 1988 sogar auf dem Index. Das Lied wurde in Bayern aus dem Radio verbannt. Das gelingt heute keiner Punkband mehr. Udo besang darin die Überbevölkerung und trat für Verhütung ein, woraufhin die Kirche ihn verteufelte. Dann kam es richtig dick: Seine Fans gingen auf die Straße, um gegen diese Entscheidung zu demonstrieren. Das muss man sich einmal vorstellen. Empörte Hausfrauen steigen auf die Barrikaden, weil sie Udo im Radio singen hören wollen.

"Die Sehnsucht stirbt an der Schwelle zur Erfüllung. Und ohne Sehnsucht kann ich nicht leben."

Seine Wirkung auf Frauen hält bis heute an. Zwar behauptet er, heute ein gutes Gespräch jungem Gemüse vorzuziehen, doch früher frönte er einem Lebensstil, wie er Rock 'n' Rollern nachgesagt wird. Ja, er habe fröhlich dahingelebt, sagte er. Und: "Frauen lieben nun einmal Windhunde."

Oder: "Die Sehnsucht stirbt an der Schwelle zur Erfüllung. Und ohne Sehnsucht kann ich nicht leben." Das zeigte sich: Vier Kinder von drei Müttern hat Jürgens. Die Sache sei, wie man damit umgehe, und da habe er sich nichts vorzuwerfen. Locker ist er auch, wo andere den Stock nicht aus dem Hintern kriegen.

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Durchbruch und Triumph: Udo Jürgens siegt mit "Merci, Chérie" 1966 beim Eurovision Song Contest.
Foto: APA/dpa

Als Conchita Wurst den Song Contest gewann, gratulierte Jürgens schon, als andere noch überlegten, ob das denn gottgewollt sein könne. Conchita habe einen Dienst an der Freiheit geleistet, sagte Udo.

Shirley, Frank und Sammy

Da schlug die eigene Vergangenheit durch, Jürgens hat mit "Merci, Chérie" 1966 den Song Contest gewonnen. Andererseits sprach da der Kosmopolit. Der formte sich, als er Anfang der 1960er Zeit in New York verbrachte. Dort schrieb er Lieder für Shirley Bassey, Frank Sinatra oder Sammy Davis junior. An die tausend Songs sollen es insgesamt sein. Er spielte mit afroamerikanischen Jazzern in den Clubs von Harlem, und Klagenfurt und der österreichische Nachkriegsmief waren weit weg. Jürgens baute so eine Distanz auf, die kein politischer Gartenzwerg bei Vereinnahmungsversuchen überwinden konnte. Weshalb Jürgens jenem Teil Kärntens zuzurechnen ist, für den sich Restösterreich nicht regelmäßig schämt.

In Großbritannien wäre einer wie er längst ein Sir, zum Ritter geschlagen im weißen Bademantel. Aber so etwas verbreitet zu sehr Rückblicksstimmung. Das taugt Udo Jürgens nicht. Sonst würde er, mit 79, sein aktuelles Album nicht "Mitten im Leben" nennen. (Text: Karl Fluch, Produktion: Sebastian Pumberger, derStandard.at, 29.9.2014)