Flüchtlinge folgen dem Unterricht in einem Deutschkurs in Wien.

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Warten, bis der Kurs beginnt – auf dem Foto in Bayern, kurz vor einem Kurs, der Flüchtlinge über Recht und Gesetz informieren soll.

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Integration hänge von der Bereitschaft des Einzelnen genauso ab wie auf der strukturellen Ebene von der Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen, sagt Sieglinde Rosenberger, Professorin am Institut für Politikwissenschaft. Im Rahmen der "Semesterfrage", die die Universität Wien gemeinsam mit derStandard.at stellt, geht sie auf Fragen der Poster zu ihrem Beitrag "Wie gelingt Integration?" ein.

Sieglinde Rosenberger: Der Begriff "Integration" ist schillernd, vielbedeutend und spricht sehr unterschiedliche Ebenen und Gefühle an. Integration bezeichnet den Weg, wie Menschen Teil einer Gesellschaft werden. Integration bezeichnet aber auch den Weg, wie Menschen sich als Gesellschaft verstehen, also miteinander verbunden sind. Somit erfasst Integration sowohl das Handeln des Einzelnen als auch das institutionelle Regelwerk, in dem der Prozess der Integration stattfindet.

In diesem Prozess kann sich die eigene Identität ändern, und zwar sowohl jene der Zugewanderten als auch jene der Aufnahmegesellschaft. Was meint "Identität"? Zuallererst die Selbstidentifikation eines Menschen oder einer Gruppe. Wer bin ich? Wer sind wir? Diese Selbstvergewisserung erfolgt in der Praxis oft weniger über die eigene Kultur und die eigenen Werte als meist über die Abgrenzung von Anderen. Eine neue Umgebung mit anderen Regeln und Gewohnheiten fordert die bisherige Identität von Zugewanderten heraus, wird sie in mancher Hinsicht verändern, in anderer Hinsicht bestärken.

Ähnlich verhält es sich mit der Aufnahmegesellschaft. Auch ihr Verständnis von "sich" kann sich verändern. Gleichzeitig versuchen aber gerade die rechtspopulistischen Parteien, die Identität als politische Frage zu bearbeiten. "Wir" sind die Modernen, die Aufgeklärten, jene, die Freiheit und Gleichheit leben. Die "Anderen" sind die Unmodernen, die Nichtaufgeklärten, die, für die die Freiheit keinen Wert darstellt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Teile der Politik oft wenig Interesse haben an Mischformen der Identität, sondern so tun, als ob es reine Formen von Identität geben könnte. Gerade dies aber ist nicht der Fall. Im Großen und Ganzen wird die Aufnahmegesellschaft vielfältiger werden und werden die Zugewanderten neue Erfahrungen zu ihren eigenen machen. Der politische Standard der liberalen Demokratie aber muss für alle Seiten gleichermaßen gelten.

Rosenberger: Vorweg: Fluchtzuwanderung folgt nicht nur kapitalistischen Regeln, sondern Fluchtzuwanderung findet statt, weil Menschen Schutz vor Verfolgung suchen und brauchen. Mit anderen Worten: Die Aufnahmegesellschaften und -wirtschaften können sich Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen, nicht aussuchen. Eine Ausnahme von diesem Prinzip war zuletzt Kanada, das eine bestimmte Zahl an Flüchtlingen aus Syrien aufnahm und diese hinsichtlich Sprache und Bildung auswählte. Das fand im Rahmen eines sogenannten Resettlement-Abkommens mit dem UNHCR statt.

Es ist sicherlich richtig, dass gut ausgebildete Zugewanderte eher Chancen auf Ausbildung, Lehre oder einen Arbeitsplatz haben als Menschen ohne mitgebrachte Qualifikationen. Bei Letzteren ist der Bedarf an Qualifizierung, die manchmal von der Alphabetisierung bis zur Fachausbildung reicht, deutlich größer.

Andererseits ist anzumerken, dass "der" Kapitalismus nicht nur nach qualifizierten Arbeitskräften verlangt, sondern auch unqualifizierte, insbesondere Menschen ohne rechtlichen Status nachfragt. Diese Gruppe bildet die moderne, billige Arbeitsreserve. Eine politische Antwort auf diese Entwicklung müsste sein, den rechtlichen Status von Flüchtlingen rasch zu klären. Die Gewährung eines Aufenthaltstitels kann sowohl Ausbeutung als auch Lohndumping bremsen.

Rosenberger: Die USA ist ein klassisches Einwanderungsland. Vielfalt, Nebeneinander und individueller Aufstieg sind die Ideen, auf denen Integration basiert. Probleme gibt es aber trotzdem, auch wenn es andere als in europäischen Ländern sind. Die ständigen Sorgen um kulturelle Integration sind kaum ein Thema. Das ist so, weil die Annahme, dass es so etwas wie einen einzigen Standard der Lebensweise gäbe, in den USA nicht oder kaum existiert. Individualität ist gesellschaftliches Charakteristikum, Pluralismus ist die politische Perspektive. Eine im Vergleich stärkere Teilnahme an Arbeit und Wirtschaft – oft zu niedrigsten Löhnen und ohne jegliche soziale Absicherung – ist Tatsache. Gleichzeitig gilt, dass manche Zuwanderungsgruppen deutlich bessere Bildungs- und Berufserfolge aufweisen als die bereits länger ansässige Bevölkerung, zum Beispiel Zugewanderte aus asiatischen Ländern. Manche Zuwanderungsgruppen jedoch leben deutlich marginalisierter, mit weniger sozialen Mobilitätsperspektiven als die bereits länger ansässige Bevölkerung. Eine generelle Aussage ist also nicht möglich, die Integration unterschiedlicher Gruppen ist ebenso unterschiedlich.

Nicht vergessen werden sollte, dass es mittlerweile in den USA sehr strenge Zuwanderungsregeln gibt. Besonders ist auch, dass in den USA Fluchtzuwanderung im Gegenteil zu Europa eine vernachlässigbare Größe darstellt.

Rosenberger: Es gibt durchaus Daten über die Integrationsergebnisse unterschiedlicher Gruppen. Es macht aber wenig Sinn, diese miteinander zu vergleichen, da schon die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen voneinander stark abweichen.

So stößt der unmittelbare Integrationswille von Flüchtlingen auf eine Reihe von institutionellen Hindernissen. Asylwerber sind in der Regel in Sammelunterkünften untergebracht und haben folglich nur sehr eingeschränkte soziale Kontakte. Sie dürfen nicht arbeiten, sie haben nur beschränkten Zugang zu Bildungseinrichtungen. Die Integrationsbereitschaft ist massiv behindert, solange das Asylverfahren dauert. Lange Asylverfahren bedeuten also gleichzeitig einen Aufschub von Integration, die Teilnahme an Erwerbsarbeit und Bildung wird auf die lange Bank geschoben.

Wer hingegen als Arbeitsmigrant, als Student oder über die Familienzusammenführung zuwandert, hat unmittelbar Zugang zu Arbeit, Bildung oder Wohnen und zu Integrationsmaßnahmen.

Da die individuelle Integrationsbereitschaft je nach Migrationsgrund auf sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen stößt, kann die oben gestellte Frage nicht sinnvoll beantwortet werden.

Rosenberger: Ob die Integration gelingt, hängt tatsächlich von vielen Faktoren, so auch von der Anzahl von Menschen, die in eine Gesellschaft neu aufgenommen werden, ab. Auf der individuellen Ebene neben der Bereitschaft oft auch von Zufällen wie bestimmten Kontakten oder bestimmten räumlichen Umwelten. Auf der strukturellen Ebene davon, ob es überhaupt Möglichkeiten gibt, wie beispielsweise das Recht für Asylwerber, zu arbeiten, oder das Recht, sich politisch zu beteiligen – beispielsweise bei fehlenden Wahlrechten für Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft.

Was heißt überhaupt "gelungene" Integration? Eine mögliche Antwort auf diese ist, dass es einen gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Dass die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen sich aufeinander beziehen und miteinander verbunden sind. Dies bedeutet vor allem auch, dass soziale Ungleichheit sich nicht als Ungleichheit zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen äußert. Gegenwärtig ist eine der größten Herausforderungen für "integrierte" Gesellschaften die wachsende Ungleichheit, die Spaltung zwischen Ärmeren und Reicheren. Gelungene Integration bedeutet Solidarität über Gruppen hinweg, um Konflikte und Spannungen zu überbrücken. (Sieglinde Rosenberger, 18.5.2016)