Alle Jahre wieder schießen im Herbst die Spekulationen ins Kraut, wer den Friedensnobelpreis erhalten wird. Angebliche Favoriten werden medial herumgereicht, doch zumeist welken diese dahin wie Herbstlaub, wenn am Freitag um elf Uhr zum Abschluss der Nobelpreiswoche vom Komitee in Oslo ganz andere Namen als tatsächliche Preisträger genannt werden.

An Auswahl mangelt es dem Nobelkomitee nicht: Mit 351 Nominierungen, die sich auf 259 Personen und 92 Organisationen aufteilen, ist die Kandidatenliste die zweitlängste in der Geschichte des Preises. Mehr gibt das Komitee nicht bekannt, sowohl die Identität der Nominierten als auch jener, die sie vorgeschlagen haben, bleibt für fünfzig Jahre unter Verschluss. In den vergangenen acht Jahren lag die Zahl der Nominierten konstant über dreihundert, mit 376 im Jahr 2016 als Höhepunkt. Erstmals werden elf Millionen schwedische Kronen (rund 948.000 Euro) an den oder die Preisträger ausgeschüttet. Zuletzt lag die Summe bei zehn Millionen, über die Jahre wurde die Gewinnsumme immer wieder nach oben oder unten angepasst. Für die ersten Preisträger im Jahr 1901, Henri Dunant und Frédéric Passy, gab es zusammen noch 150.782 Kronen – dies entspricht einem heutigen Geldwert von etwa 755.000 Euro.

Alfred Nobel stiftete den nach ihm benannten Preis.
Alfred Nobel stiftete den nach ihm benannten Preis.
AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Option Aussetzung

Wie immer hat das Nobelkomitee jedoch auch die Option, die Preisverleihung für ein Jahr auszusetzen. Insgesamt gab es seit der ersten Vergabe 1901 bereits 19 Jahre ohne Friedensnobelpreisträger. Das vorerst letzte Mal liegt jedoch schon ein halbes Jahrhundert zurück: Im Jahr 1972 gab es aufgrund des Vietnamkrieges keinen Preisträger. Im Jahr darauf erhielten dafür mit Henry Kissinger und Lê Đức Thọ zwei der Kontrahenten dieses Konflikts die Ehrung – eine denkbar problematische Entscheidung. Thọ akzeptierte den Preis nicht, Kissinger gilt aufgrund seiner politischen Bilanz als ein Negativbeispiel für einen Träger des Friedensnobelpreises. 1973 war allerdings auch ein Österreicher auf der Kandidatenliste: Der damalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim erhielt eine Nominierung aus Südvietnam und wäre retrospektiv betrachtet zurückhaltend formuliert auch kein unumstrittener Preisträger gewesen.

Gemäß dem Testament Alfred Nobels soll der Friedensnobelpreis an jenen gehen, der "am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat". Allerdings ist die Liste der Missgriffe des Nobelpreiskomitees durchaus illuster. Der Palästinenserführer Yassir Arafat erhielt 1994 – gemeinsam mit Yitzhak Rabin und Shimon Peres – den Preis für den Oslo-Friedensprozess. Dieser war jedoch spätestens mit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 Makulatur. Im Jahr 2009 wiederum wurde Barack Obama ausgezeichnet – Vorschusslorbeeren, denen der US-Präsident in seinen folgenden sieben Amtsjahren nicht ansatzweise gerecht wurde. Und erst 2019 erhielt der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed die Ehrung für den Friedensschluss mit dem Nachbar Eritrea, mittlerweile ist er in blutige Kriege innerhalb Äthiopiens verstrickt.

Favorit Selenskyj

Im Gegensatz zum Nobelpreiskomitee sind die Vorschlagsberechtigten nicht zum Schweigen verpflichtet – vereinzelte Informationen zu den Nominierten gibt es aus diesen Quellen. So soll wie schon bereits mehrfach der russische Oppositionelle Alexej Nawalny auf der Liste stehen ebenso wie die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg und ihr ugandisches Pendant Vanessa Nakate.

Bei den Buchmachern ist heuer jedoch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Abstand der aussichtsreichste Kandidat – und dennoch ist der Friedensnobelpreis zumindest zu diesem Zeitpunkt völlig unrealistisch, solange die Ukraine noch gezwungen ist, sich militärisch gegen die russische Aggression zu wehren.

Wolodymyr Selenskyj ist bei den Buchmacher Favorit.
Wolodymyr Selenskyj ist bei den Buchmachern Favorit.
via REUTERS/UKRAINIAN PRESIDENTI

PRIO-Shortlist

Auch die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja hat bei den Wettbüros gute Chancen. Trotzdem käme eine Ehrung für sie bis zu einem gewissen Grad überraschend. Schließlich stammen mit dem russischen Journalisten Dmitri Muratow, dem belarussischen Dissidenten Ales Bialiatski, der russischen Organisation Memorial und dem ukrainischen Centre for Civil Liberties gleich vier der fünf Prämierten der beiden Vorjahre aus der Region.

Jahr für Jahr veröffentlicht auch das Osloer Peace Research Institute (PRIO) mit seinem Direktor Henrik Urdal eine Shortlist über die aussichtsreichsten Kandidaten. Heuer stehen Menschenrechtsaktivisten ganz oben: Narges Mohammadi und Mahbouba Seraj setzen sich im Iran respektive in Afghanistan für die Rechte der unterdrückten Frauen in den beiden islamischen Diktaturen ein und sind deshalb selbst der Verfolgung ausgesetzt. Die Philippinin Victoria Tauli-Corpuz und den Ecuadorianer Juan Carlos Jintiach wiederum vereint ihr Einsatz für die Rechte Indigener. Eine Ehrung für die beiden wäre gleichzeitig auch ein Statement für Umweltschutz und den Kampf gegen den Klimawandel. Myanmars UN-Vertreter Kyaw Moe Tun und der myanmarische National Unity Consultative Council werden vom PRIO für ihren Kampf gegen die Militärdiktatur und für Demokratie als potenzielle Preisträger gehandelt. Ebenfalls Chancen räumt das PRIO dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und auch der Human Rights Data Analysis Group ein. (Michael Vosatka, 5.10.2023)