Richter Michael Radasztics bei der Verhandlung gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz. 
Vom Staatsanwalt zum Richter, vom Ex-Kanzler zur Telefonbetrügerin: Michael Radasztics zeigt, wie viele Facetten der Justizalltag in Wien hat.
APA / HELMUT FOHRINGER

Wien – Es gibt ja neben dem Journalismus noch andere Berufsfelder, denen von der Öffentlichkeit eher fragwürdige moralische Anforderungen für deren Ausübung unterstellt werden. Immobilienmakler, Personalberater und Finanzdienstleister zählen wohl dazu. Doch selbst diese Sparten wären für die 27 Jahre alte Frau D., die mit einer Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation und gewerbsmäßig schweren Betrugs vor Richter Michael Radasztics sitzt, noch ein Job, in dem sie in den Spiegel schauen kann. Denn laut der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) soll die Unbescholtene im vergangenen Herbst von Istanbul aus telefonisch dazu beigetragen haben, dass alte Menschen um viel Geld gebracht wurden.

Aus Sicht des Anklägers soll die gebürtige Österreicherin zu einer Organisation gehören, die mit dem "Polizeitrick" in mindestens 250 Fällen über zwölf Millionen Euro erbeutet hat. Der Ablauf des Betrugs: In öffentlichen Telefonverzeichnissen wird nach Festnetzanschlüssen von Personen mit älter klingenden Vornamen wie Dorothea oder Elfriede gesucht. Anschließend kontaktieren die Täterinnen diese Nummern, geben sich als Bankmitarbeiterinnen aus und warnen, dass mit einem gefälschten Ausweis versucht worden sei, Geld abzuheben.

Mehrstufige Betrugsmasche

Es folgt der Anruf eines "Polizisten", der ankündigt, ein Kollege werde vorbeikommen und das Opfer zur Bank begleiten, damit sie ihre Ersparnisse und Wertgegenstände abheben und dem zweiten "Beamten" übergeben kann. Tatsächlich klingelt es fast zeitgleich an der Tür, der dritte Täter weist sich mit einem gefälschten Ausweis aus, organisiert ein Taxi, bringt damit die meist betagten Geschädigten zu ihrem Geldinstitut und verschwindet nach der Übernahme der Beute spurlos.

Frau D. gibt zu, im Oktober 2023 als Telefonistin in einem derartigen Callcenter gearbeitet zu haben. Ihre Verteidigerin erklärt, die Frau habe sich damals in einer schwierigen Situation befunden: Sie hatte sich von ihrem Gatten getrennt und war mit Freundinnen zu einer Geburtstagsfeier nach Istanbul geflogen. Im Club lernte sie einen Herrn Veysel kennen, den die Gruppe am nächsten Tag wieder traf. Da D. ohnehin plante, in die Megalopolis am Bosporus zu übersiedeln, freute sie sich über sein Angebot, doch in seinem "Office" vorbeizuschauen, wo sie arbeiten könne.

Lernen von der Kollegin

Das Büro war der erste Stock eines Einfamilienhauses, die Angeklagte gibt zu, dort insgesamt fünf Tage im "Telefondienst" gewesen zu sein. Erst habe sie ihre Kollegin Aishe bei der Arbeit beobachtet, dann selbst begonnen, die über 80-jährigen Opfer anzurufen. Veysel oder sein Komplize Mehmet hätten ihr gesagt, sie solle sich mit dem Namen "Maria Hils" vorstellen, und informiert, aus welcher Bankfiliale sie angeblich anrief. "Erfolgreich" sei sie bei den Betrugsversuchen aber nie gewesen, versichert die Angeklagte. Dass es sich aber um eben solche handle, sei ihr bewusst gewesen.

"Mir wurde gesagt, dass man pro 'Treffer' 10.000 bis 15.000 Euro bekommt", erzählt die 27-Jährige. "Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: 'Gott hat es nicht zugelassen'", gibt sie sich froh, dass es angeblich nicht geklappt habe. Allerdings: Sie behauptet, in ihren Anrufen den Opfern erzählt zu haben, ein Ausweis sei in der Bank "hinterlegt" worden. "Wie haben die Angerufenen da reagiert?", interessiert Richter Radasztics. "Verwundert. Manchmal haben sie die Ausweise gesucht und aufgelegt, wenn sie sie gefunden haben", meint die Angeklagte.

7,5 Prozent Provision an der Beute

Die Opfer und eine aus der Untersuchungshaft vorgeführte Komplizin schildern den Trick anders und glaubwürdiger. Die angeblichen Bankmitarbeiterinnen hätten immer davon gesprochen, dass ein gefälschtes oder kopiertes Dokument der Geschädigten verwendet worden sei. Die andere "Telefonistin" ist sich darüber hinaus sicher, dass D. schon zu Beginn ihrer Tätigkeit einen "Treffer" erreicht habe. Ihrer Darstellung nach erhält man in so einem Fall 7,5 Prozent der erbeuteten Summe.

Eine 86-jährige Zeugin, die 39.000 Euro verloren hat, schildert, dass eine "Anna Hils" sie angerufen und sich als Polizistin eines Betrugsdezernates ausgegeben habe. "Ich hatte vorher schon mehrmals solche Anrufe und immer aufgelegt", erzählt die Pensionistin. In diesem Fall sei es aber anders gewesen, die Anruferin habe sehr vertrauenswürdig geklungen. "Ich war wie hypnotisiert, dass ich das gemacht habe", erinnert die Zeugin sich.

Eine weitere Dame fiel ebenso auf "Anna Hils", diesmal angeblich Bankmitarbeiterin, herein, Schaden erlitt sie aber keinen, obwohl die Gruppe sehr organisiert vorgehe. Diese Zeugin hat sogar noch den Zettel ins Gericht mitgebracht, auf dem sie den Namen der Anruferin notiert hatte. "Ich wollte danach eigentlich mit dem Handy in meiner Bank anrufen, ob es dort so eine Mitarbeiterin überhaupt gibt." Dazu sei sie aber nicht gekommen, da sofort, nachdem "Frau Hils" aufgelegt hatte, das Festnetz neuerlich klingelte und sich der erste falsche Polizist meldete. Da der aber so drängend und unfreundlich gewesen sei, habe sie aufgelegt.

Stimmliche Gegenüberstellung

Richter Radasztics bittet die Angeklagte, ihr damals verwendetes Sprüchlein in Gegenwart der Zeuginnen aufzusagen. Während das erste Opfer keine Ähnlichkeit erkennt, ist sich das zweite sicher: "Ja, das ist sie. Auch der Tonfall!" Was jedoch D.s Aussage eher widersprechen würde: Ihr zufolge sei eine stimmengenerierende Software verwendet worden, wodurch im Bedarfsfall auch Mehmet oder Veysel den Laptop übernehmen konnten, um mehr Druck aufzubauen, behauptet sie.

Auf die Frage der Verteidigerin nach ihrer Zukunft beginnt die Angeklagte zu weinen. Sie mache Fortbildungen und habe Bewerbungsgespräche. Ihre Lage sei trist: "Ich kann in das Gesicht meiner Eltern nicht mehr schauen, ich kann ihre gesenkten Köpfe nicht sehen. Ich habe sie noch nie enttäuscht!", erklärt sie schluchzend, warum sie Vater und Mutter, die in der Vorwoche ihre Bankschulden in Höhe von 20.000 Euro beglichen haben, nichts von ihrem Strafverfahren erzählt hat.

Opfer "hochbetagte Menschen"

Der Vertreter der WKStA bleibt in seinem Schlussplädoyer dabei: D. sei Mitglied einer kriminellen Organisation, "die teils hochbetagte Menschen um ihre Lebensersparnisse bringt". Die Angeklagte habe zwar zugestanden, mitgearbeitet zu haben, "die Reue vermisse ich ein bisschen, auch wenn sie aus familiärem Druck weint", gibt er zu bedenken. Es gebe derzeit keinen Hinweis, dass diese Betrugsmasche derzeit weniger werde, daher sei generalpräventiv eine entsprechende Strafe notwendig.

Die Verteidigerin stellt klar, dass ihre Mandantin nach wenigen Tagen selbst aufgehört habe und mittlerweile versuche, "ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen". D. selbst nutzt ihre Möglichkeit des letzten Wortes, um mit neuerlich tränenerstickter Stimme zu beteuern: "Es tut mir unendlich leid, dort gewesen zu sein, es versucht zu haben. Ich schäme mich dafür. Sowas wird nie wieder vorkommen!"

Richter hat "ein bisschen Bauchweh"

Der Richter verurteilt sie lediglich wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation zu 19 Monaten Haft, zwei davon sind unbedingt. Von den Betrugsvorwürfen spricht er D. dagegen frei. "Die Sache ist nicht ganz eindeutig, den Aussagen der Zeuginnen bezüglich der Stimmerkennung ist kein besonderes Gewicht zuzurechnen. Es ist unrealistisch, dass man nach sieben Monaten noch sagen kann, wie eine Stimme geklungen hat, wenn kein besonderer Dialekt verwendet wird", begründet Radasztics seine Entscheidung. "Auch wenn da ein bisschen Bauchweh bleibt, kann man es nicht mit der für ein Strafverfahren notwendigen Sicherheit sagen."

Nach kurzer Beratung mit ihrer Rechtsvertreterin nimmt sich die Angeklagte drei Tage Bedenkzeit, auch der Staatsanwalt gibt vorerst keine Erklärung ab, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 29.4.2024)