Diese Woche ist das Kurzzeitgedächtnis wieder besonders gefordert. Es gilt, über den Eurovision Song Contest zu berichten. Das ist eine Veranstaltung mit verschiedensten Reputationen. Für die einen ist es eine Art Vielvölkerfest, bei dem die Grenzen Europas bis nach Australien gedehnt werden, das traditionell ebenfalls mitsingt. Für die anderen ist es ein Wettbewerb dutzender Eintagsfliegen des Pop, von denen die meisten vergeblich versuchen, irgendwem in Erinnerung zu bleiben. Das gelingt meist nur der Siegerin oder dem Sieger des Bewerbs.

Der olympische Gedanke

Musikerinnen oder Musiker, die schon vor dem ESC eine Karriere hatten, wurden von einem schlechten Abschneiden beim Wettsingen oft aus der Bahn geworfen. Hierzulande erging es Wilfried so, der 1988 mit "Lisa Mona Lisa" untergegangen ist. Wilfried wurde Letzter und kehrte mit dem Stigma des Losers heim. Meist aber zählt der olympische Gedanke, dabei sein und nicht Letzter werden ist alles. Das gilt auch für den heimischen Beitrag in diesem Jahr. Die Newcomerin Marie-Sophie Kreissl alias Kaleen wird mit dem hoffnungsfrohen Titel "We Will Rave" antreten.

Ukraine Sieger bei ESC 2022
Russland wurde von der Teilnahme ausgeschlossen, die Ukraine gewann im ersten Kriegsjahr aufgrund massiver Solidarität – der an sich unpolitische ESC war politisch geworden.
EPA/ ALESSANDRO DI MARCO

Politisches Schlaglicht

Der heurige ESC wird in Schweden ausgetragen, in Malmö. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine – beide prinzipiell Song-Contest-Teilnehmerländer – steht der ESC in einem politischen Schlaglicht. Russland wurde von der Teilnahme ausgeschlossen, die Ukraine gewann im ersten Kriegsjahr aufgrund massiver Solidarität den Bewerb, der dann in England ausgetragen wurde, weil die Ukraine kein sicheres Gastland war. Damit war der an sich unpolitische ESC politisch geworden.

Wie politisch war der Song Contest in der Vergangenheit?

Prinzipiell gilt: Beim Song Contest sind keine politischen Botschaften erlaubt. Daran halten sich grundsätzlich alle Teilnehmer, durch die Blume der Poesie eines Lieds gesungen kam es in der Vergangenheit aber immer wieder zu politischen Songs, gar zu politischen Siegerliedern. Man denke nur an die deutsche Schlagersängerin Nicole, die 1982 mit der Friedensbotschaft "Ein bisschen Frieden" zur Zeit des Kalten Kriegs jenen Menschen aus der Seele sprach, die sich damals in der sich gerade formierenden Friedensbewegung engagiert hatten.

Schon 1974 galt der italienische Beitrag als innenpolitisch brisant. Der staatliche Sender RAI strahlte damals den ESC nicht live aus, weil er befürchtete, das Lied "Si" („Ja“) könnte ein tags darauf in Italien abgehaltenes Referendum beeinflussen, bei dem es um das Verbot von Scheidungen ging. Italien wurde damals hinter Schwedens Abba Zweiter.

Soundtrack der Nelkenrevolution

Im selben Jahr trat Portugal mit dem Lied "E depois do adeus" („Und nach dem Abschied“) an. Das Lied sollte zu einem Botschafter der sogenannten Nelkenrevolution werden, die die fast 50 Jahre anhaltende Diktatur in Portugal beenden sollte.

Massiv angefeindete Conchita

Und der Sieg Österreichs mit Conchita Wurst im Jahr 2014 war ebenfalls ein politisches Statement, zumal Tom Neuwirth damals gerade von russischer Seite massiv angefeindet wurde – in dem Jahr, in dem Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert hatte. In ihrem Siegerstatement sagte Conchita damals: "Dieser Abend ist allen gewidmet, die an eine Zukunft in Frieden und Freiheit glauben. Ihr wisst, wer wir sind: Wir sind eine Gemeinschaft, und wir sind unaufhaltbar."

Protestierende in Schweden gegen Israels Teilnahme an ESC.
Nachdem Israel 2023 nach dem Terrorüberfall der Hamas in den Gazastreifen einmarschiert war, entstand eine Debatte darüber, ob Israel am ESC teilnehmen dürfe.
EPA/ Johan Nilsson/ TT

Israel und das Lied "October Rain"

Nachdem Israel im Vorjahr nach dem Terrorüberfall der Hamas in den Gazastreifen einmarschiert war, wurde sofort darüber diskutiert, ob das Land am ESC teilnehmen dürfe oder nicht. Die Entscheidung fiel für Israel aus, doch der Titel des Lieds, mit dem die 20-jährige Eden Golan antreten wollte, wurde als zu politisch eingestuft und abgelehnt: Es hieß, "October Rain" nehme zu deutlich Bezug auf den Anschlag der Hamas.

Golan tritt nun mit dem Titel "Hurricane" an, aber die politischen Diskussionen sind damit nicht vom Tisch. In einer hochpolitisierten Zeit ist ein unpolitischer Wettbewerb der Nationen nicht denkbar. Da kann der ESC noch so sehr auf seine Statuten pochen, die Wirklichkeit ist nicht auszublenden. Die Sehnsucht nach ein bisschen Frieden ebenfalls nicht. (Karl Fluch, 10.5.2024)