Laimer Neuer Bayern Champions League Real Madrid
Konrad Laimer (li.) und Manuel Neuer stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
REUTERS/Juan Medina

Madrid – Thomas Tuchel wirkte gefasst. Nur als der Trainer des FC Bayern nach dem dramatisch geplatzten Traum vom deutschen Endspiel in Wembley über den Schiedsrichter sprechen sollte, war seine Erregung deutlich sichtbar und hörbar. "Das ist ein absolutes Desaster die Entscheidung", klagte er über den vorzeitigen Pfiff von Szymon Marciniak aus Polen gegen Ende der Nachspielzeit, der den möglichen späten Ausgleich der Münchner gegen Real Madrid verhinderte.

Marciniak hatte beim Spielstand von 1:2 (0:0) den Angriff der Bayern gegen Ende der 15-minütigen Nachspielzeit wegen einer vermeintlichen Abseitsstellung abgepfiffen, der Treffer von Matthijs de Ligt zählte damit nicht. "Die Spielszene muss zu Ende gespielt werden, das ist die Regel, vor allem, wenn es so knapp, so nah am Tor ist. Den ersten Fehler macht der Linienrichter, den zweiten macht der Schiedsrichter", echauffierte sich Tuchel bei DAZN.

Dann redete sich der um ein Bayern-Happy-End gebrachte Coach in Rage. "Alle müssen ans Limit. Alle müssen leiden. Alle müssen fehlerfrei spielen. Da müssen halt die Schiedsrichter auf diesem Niveau das auch tun", sagte er mit sich fast überschlagender Stimme.

Experten wie der frühere Schweizer Spitzenschiedsrichter Urs Meier gaben ihm recht. "Eine Szene kann wieder alles kaputt machen – aber das Schiedsrichterteam hat das nicht gut gemacht. Das ist sicher nicht die Linie, die die UEFA oder die FIFA will. Bei den knappen Dingen soll man laufen lassen. Und dann kann man das immer noch anschauen, wenn es auf die andere Seite gekippt ist", sagt Meier dem Schweizer Streamingdienst blue sport.

"Eine Riesen-Fehlentscheidung"

"Die Szene finde ich unglaublich. Ich kann das nicht verstehen, da musst du durchspielen", sagte de Ligt. Marciniak habe sich entschuldigt, berichtete der niederländische Verteidiger – Bayerns Sportvorstand Max Eberl fand das gut und richtig, war aber trotzdem massiv verärgert: "Dafür können wir uns einen Scheißdreck kaufen." Die Entscheidung nannte er "kurios und dubios", Tuchel ergänzte: "Hätten wir ohne Schiedsrichter gespielt, wäre es besser gewesen." Auch DAZN-Experte Michael Ballack monierte: "Eine Riesen-Fehlentscheidung vom Schiedsrichter."

Auch Kapitän Manuel Neuer haderte mit dem ansonsten souveränen Unparteiischen. "Das weiß er selbst am Ende, dass das ein Fehler war", sagte er, übte aber auch Selbstkritik. Dass Real durch die zwei Treffer (88. und 90.+2) des in Deutschland geborenen José Luis Sanmartín Mato, kurz Joselu, nach der Führung von Alphonso Davies (68.) in der dramatischen Schlussphase noch zurückkam, lag auch am bis dahin überragenden Neuer selbst: Durch einen Patzer vor dem Ausgleich machte er den Weg zur Aufholjagd von Real frei.

Erst patzte der bis dahin starke Manuel Neuer, dann staubte Joselu (re.) zum Ausgleich für Real ab, ehe er auch noch den Sieg fixierte.
AFP/THOMAS COEX

"Das ist extrem bitter für mich, ich habe den Ball anders erwartet, eher Richtung Brustkorb, er ist dann einen Tick höher gegangen. Damit habe ich nicht gerechnet, dass da so ein minimaler Maulwurf drin war im Platz", sagte Neuer zu seinem Missgeschick beim Schuss von Vinicius Junior. Ja, stellte er leise fest, "dieses 1:1 ist brutal". Es war ein Fehler, "der Manuel in 100 Jahren nicht noch mal passiert", sagte Tuchel.

"Schon mit einem Schritt in London"

"Die Jungs sind sehr enttäuscht. Wir waren schon fast durch, es war ein voller Fight. Nichts, was ich sage, kann das irgendwie lindern", sagte Tuchel nach dem letzten Tiefschlag in einer Saison, die der FC Bayern zum ersten Mal seit 2012 ohne Titel beendet. Auch Neuer klagte: "Dass wir so ausscheiden mit der Schlussphase ist extrem bitter. Wir waren schon mit einem Schritt in London, da fehlen einem echt die Worte."

Schwer zu verdauen war für die Bayern zudem, dass mit Joselu ausgerechnet ein gebürtiger Stuttgarter mit spanischen Wurzeln das Aus der Münchner besiegelte. Der Matchwinner der Madrilenen war erst im vergangenen Sommer als Ergänzungsspieler von Absteiger Espanyol Barcelona geholt und mit einem Leihvertrag (samt Kaufoption) ausgestattet worden. Der 34-Jährige spielte in zehn Jahren für zehn Vereine, konnte sich aber weder in der Premier League noch in Deutschland, wo er unter anderem bei Hoffenheim und Eintracht Frankfurt spielte, durchsetzen. Am Mittwoch schlug seine große Stunde. "Er ist ein Spieler, der in dieser Saison viel beigetragen hat, obwohl er nicht viel gespielt hat", lobte Real-Coach Carlo Ancelotti den Matchwinner. "Er ist das perfekte Sinnbild für diese Mannschaft: Spieler, die viel beitragen, ohne ihr Selbstvertrauen zu verlieren (wenn sie nicht spielen), und die Idee, dass sie dem Team etwas bringen können."

Im Moment des Triumphes wurde bei Real auch nicht auf den verletzten Teamkollegen David Alaba vergessen. Verteidiger Antonio Rüdiger erinnerte mit einem auf das Spielfeld geholten Klappstuhl an den wegen eines Kreuzbandrisses fehlenden und um die EM-Endrunde in Deutschland bangenden ÖFB-Teamkapitän. Dieser hatte im März 2022 nach dem Aufstieg Reals im CL-Achtelfinale gegen Paris St. Germain einen Plastiksessel wie eine Trophäe präsentiert und die Bild zum Titel "Der verrückteste Jubel des Jahres" verleitet. "Es ist für David Alaba", sagte Rüdiger am Mittwochabend. "Er ist wichtig für uns. Es war für die Fans, dass sie ihn feiern."

Keine Chance zur Revanche für Dortmund

Reals Finalgegner Dortmund wird nach einer wilden Party-Nacht in Paris und der umjubelten Rückkehrwohl ein wenig enttäuscht sein vom Scheitern der Bayern, zumal damit auch die Chance zur Revanche für die Niederlage im "German Endspiel" von 2013 dahin ist. Nun also heißt es am 1. Juni im Finale zu Wembley Madrid statt München, und die Rollen sind klar verteilt. "Real ist eine richtige Finalmaschine, deswegen gehen sie als Favorit ins Finale", sagte Dortmund-Sportdirektor Sebastian Kehl im ZDF. "Jetzt müssen wir das Ding auch holen! Sonst wäre es echt scheiße", sagte Marco Reus.

Warum es im Gegensatz zur Liga beim BVB in der Champions League läuft wie am Schnürchen, ist ein kurioses Kapitel Fußballgeschichte. Während die Dortmunder etwa insgesamt sieben Tore in zwei Ligaspielen gegen RB Leipzig kassierten, mussten sie von Paris St. Germain in 180 Minuten nicht einen Gegentreffer hinnehmen. Allerdings hatte PSG in zwei Spielen sagenhafte sechsmal Aluminium (viermal im Rückspiel) getroffen. Pfosten und Latte sollten schließlich auch als "Spieler des Tages" vom kicker geehrt werden, mit Note 1,0 und der Begründung: "Standen unerschütterlich da, wo sie stehen mussten." (sid, APA, honz, 9.5.2024)

Fußball-Champions-League - Halbfinal-Rückspiel:
Real Madrid - Bayern München 2:1 (0:0). Madrid, Estadio Santiago Bernabeu, SR Marciniak (POL).
Hinspiel: 2:2 - Real mit einem Gesamtscore von 4:3 im Finale am 1. Juni in London (Wembley-Stadion).

Tore: 0:1 (68.) Davies, 1:1 (88.) Joselu, 2:1 (91.) Joselu

Real: Lunin - Carvajal, Rüdiger, Nacho, Mendy - Valverde (81. Joselu), Kroos (69. Modric), Tchouameni (69. Camavinga) - Bellingham (100. Eder Militao) - Rodrygo (81. Diaz), Vinicius Jr.

Bayern: Neuer - Kimmich, De Ligt, Dier, Mazraoui - Laimer, Pavlovic - Sané (76. Kim), Musiala (85. Müller), Gnabry (27. Davies) - Kane (84. Choupo-Moting)

Gelbe Karten: Camavinga bzw. Tuchel (Bayern-Trainer)